Abraham – Abschied vom Monstergott
Abraham wanderte vor rund 3.500 Jahren aus Mesopotamien ins heutige Palästina und wurde dort zum Stammvater eines großen Volkes. Juden, Christen und Muslime – sie nennen ihn Ibrahim – verehren ihn als Vater des Glaubens.
Da lässt sich einer aus einer gesicherten Existenz ins Ungewisse rufen, bekommt von Gott die Freundschaft angeboten – und fordert ihn heraus.
„Zieh weg aus deinem Land“, sagt Gott zu Abram, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, „von Verwandtschaft und Vaterhaus ins Land, das ich dir zeige“ (Genesis 12,1).
Ein verrücktes Ansinnen, denn Abram („Gott ist erhaben“), der einstige Halbnomade, lebt als kultivierter Städter im reichen Sumer und soll plötzlich wieder zum Vagabunden werden. Die Reise geht ins kanaanitische Hinterland, dessen Bewohner angeblich rohes Fleisch essen und ihre Toten unbestattet verwesen lassen.
Kein Ziel, keine Perspektive – nur die Ermunterung eines Gottes, der aus dem Dunkel spricht und völlig unrealistische Versprechungen macht: „Schau zum Himmel empor und zähl die Sterne, wenn es schaffst … so zahlreich werden deine Nachkfahren sein“ (Genesis 15,5). „Abraham“ nennt er ihn jetzt, „Vater einer Menge“.
Gott schließt Freundschaft mit dem Menschen
Doch dieser atemberaubenden Stimme mit ihren merkwürdigen Aufforderungen zu vertrauen, das ist der Beginn einer Freundschaft zwischen Gott und Mensch, wie sie die Religionsgeschichte bisher nicht kennt. Auf einmal ist Gott kein berechenbarer Götze mehr, kein Himmelstyrann, mit dem man Geschäfte macht und dessen Zorn man mit frommen Ritualen besänftigen muss. Zwischen Gott und Mensch entwickelt sich eine Liebesgeschichte. Gott wird zum Partner, zum Freund. Der Mensch übernimmt Verantwortung für sein Leben.
Und dann, aus heiterem Himmel, dieses Horrorszenario, die entsetzlichste Episode der ganzen Bibel! „Nimm deinen einzigen Sohn, den du liebst, Isaak, und bring ihn mir als Brandopfer dar“ (Genesis 22,2).
Ist Abrahams himmlischer Freund wieder zum menschenfressenden Monster geworden? Soll das Religion bedeuten, die Willkür eines launischen Gottes anzubeten und seine eigenen Geschöpfe abzuschlachten, wenn er es befiehlt?
Die beruhigenden Erklärungen der Schriftgelehrten befriedigen nur im ersten Moment: Die Story schildere in legendenhafter Sprache den dramatischen Augenblick, als die Juden die allgemein übliche Praxis der Menschenopfer aufgaben.
Doch warum hat Abraham nicht sofort protestiert, als ihm Gott zumutete, sein Kind umzubringen? Wusste er nicht, dass Gott sich nach jüdischer Tradition an sein eigenes Gesetz zu halten hat, auch an das wichtigste von allen: „Du sollst nicht töten“? Der Auschwitz-Überlebende und Romancier Elie Wiesel, ein Querdenker wie alle guten Talmudgelehrten, kann sich die Geschichte nur so erklären, dass Abraham Gott herausfordern wollte: „Wir werden sehen, ob du bis zum Äußersten gehst!“
Und Gott habe tatsächlich nachgegeben. Seither empfinde er so etwas wie Gewissensbisse, wenn er über die Taten der Menschen richten solle, und bringe mehr Verständnis für sie auf. „Wegen Abraham und Isaak weiß er, dass man bestimmte Dinge zu weit treiben kann.“
Ökumenische Eintracht
Was kaum einer weiß: Dem Patriarchen Abraham widmen katholische, evangelische und orthodoxe Kirche in brüderlicher Eintracht am 9. Oktober einen Gedenktag im Heiligenkalender. In der römisch-katholischen Eucharistiefeier wird er regelmäßig erwähnt, wenn das „Erste Hochgebet“ verwendet wird. Darin heißt es, wenn Gott das „Brot des Lebens“ und der „Kelch des ewigen Heiles“ dargebracht wird:
„Blicke versöhnt und gütig darauf nieder und nimm sie an wie einst die Gaben deines gerechten Dieners Abel, wie das Opfer unseres Vaters Abraham, wie die heilige Gabe, das reine Opfer deines Hohenpriesters Melchisedek.“
Christian Feldmann